Wie kam der Religionsunterricht ins Grundgesetz?

Zum Verständnis des heutigen Verhältnisses von Staat und Religion im Schulwesen müsste man eine jahrhundertelange Historie überblicken. Sie ist durch den Anspruch des Klerus gekennzeichnet, über das Schulwesen zu bestimmen. Im 18. Jahrhundert z.B. lag in Preußen die Verwaltung der Schulen als reiner „Appendix der kirchlichen Verwaltung“ bei den Konsistorien, dem Oberkonsistorium und den beiden geistlichen Departements im preußischen Justizministerium. Die Ortspfarrer waren mit der Aufsicht über die Lehrer betraut [1].

Wenn Sie mehr Geschichtliches erfahren wollen, empfehlen wir die Links am Ende dieser Seite. Hier möchten wir nur einige Stützstellen nennen.

Weimarer Verfassung

Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 beendete Staatsreligion und Staatskirchentum. Sie garantierte erstmals die individuelle und korporative Religionsfreiheit für ganz Deutschland.

Artikel 135. Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit Die ungestörte Religionsübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.

Artikel 137. Es besteht keine Staatskirche. ….

Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. …

Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.

Weimarer Reichsverfassung von 1919

Dieser und weitere Artikel der Weimarer Verfassung (Art. 136 -141 WRV) sind gemäß Artikel 140 Bestandteil unseres Grundgesetzes; sie wurden inkorporiert. Bemerkenswert ist, dass der Art. 135 WRV, der den Vorrang der Staatsgesetze festschreibt, nicht ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Das nutzen die Kirchen, um für sich Selbstbestimmung statt bloßer Selbstverwaltung zu fordern.

Mit der Gründung der Weimarer Republik wurde auch die kirchliche Schulaufsicht für die öffentlichen Schulen in Deutschland abgeschafft, d.h. religiöser Einfluss und religiöse Bevormundung sollten beendet werden. Allerdings war der Widerstand der Kirchen zu groß, um den Religionsunterricht ganz aus der Schule zu verbannen. Und nicht nur das: Auch für die Ausbildung der Religionslehrer mussten die Hochschulen aufkommen:

Artikel 149. Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaften unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt.

Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.

Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.

Weimarer Reichsverfassung von 1919

In modernisierter Formulierung ist dies als Artikel 7 in unser Grundgesetz aufgenommen worden, jedoch ohne den Satz über die theologischen Fakultäten. Trotzdem gibt es an unseren Hochschulen evangelische, katholische und mittlerweile auch islamische Fakultäten bzw. Institute.

Reichskonkordat

Das Reichskonkordat, ein heute noch gültiger Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, wurde 1933 geschlossen. Der damalige Reichskanzler Adolf Hitler unterzeichnete das Gesetz zur Durchführung des Reichskonkordates am 12. September 1933.

Papst Pius XI. und das Deutsche Reich vereinbarten in den Artikeln 21 bis 24 den  katholischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach sowie ein Vetorecht der Kirche bei der Einstellung des Lehrpersonals.

Artikel 21

Der katholische Religionsunterricht in den Volksschulen, Berufsschulen, Mittelschulen und höheren Lehranstalten ist ordentliches Lehrfach und wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der katholischen Kirche erteilt. Im Religionsunterricht wird die Erziehung zu vaterländischem, staatsbürgerlichem und sozialem Pflichtbewußtsein aus dem Geiste des christlichen Glaubens des Sittengesetzes mit besonderem Nachdruck gepflegt werden, ebenso wie es im gesamten übrigen Unterricht geschieht. Lehrstoff und Auswahl der Lehrbücher für den Religionsunterricht werden im Einvernehmen mit der kirchlichen Oberbehörde festgesetzt. Den kirchlichen Oberbehörden wird Gelegenheit gegeben werden, im Einvernehmen mit der Schulbehörde zu prüfen, ob die Schüler Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Lehrern und Anforderungen der Kirche erhalten.

Reichskonkordat von 1933

Die katholische Kirche besteht bis heute auf der Gültigkeit des Reichskonkordat. Dabei geht es ihr vor allem um die Regelungen zum Religionsunterricht.

Eingang ins Grundgesetz der BRD

Teil 1 unseren Grundgesetzes befasst sich mit den Grundrechten der Bürger gegenüber dem Staat: Gleichheit vor dem Gesetz, Bekenntnisfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, etc. Artikel 7 bildet eine Ausnahme: Er gibt ein Recht an Religionsgemeinschaften, nämlich Religionsunterricht in staatlichen Schulen zu erteilen. Dies darf nicht als angebliches Recht der Kinder auf Religionsunterricht fehlinterpretiert werden!

Bei den Verhandlungen zum Entwurf des Grundgesetzes machte der Redaktionsausschuss darauf aufmerksam, dass der Religionsunterricht  im Grundrechtsteil des Verfassungsentwurfs systemwidrig sei:

„Abs. 2 gehört eigentlich nicht in die Grundrechte, da er Regeln für das Schulwesen enthält. In den Grundrechten wird nur die Individualsphäre gegenüber dem Staat abgegrenzt“.

zitiert in: Hartmut Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht, Baden-Baden, 2022, S. 102

Damit rührte der Redaktionsausschuss an die Substanz des Grundgesetzes. Der Parlamentarische Rat hatte sich dafür entschieden, kulturelle und soziale Grundrechte, die man als „Lebensordnungen“ bezeichnete, aus der neuen Verfassung herauszuhalten.

Die Kirchen intervenierten jedoch und verlangten die Aufnahme des Religionsunterrichts in die Verfassung. Daraufhin durchbrach der Parlamentarische Rat seinen eigenen Grundsatzbeschluss. Dies tat er indessen einseitig: Kirchenbezogene kulturelle Lebensordnungen fanden Eingang in die Verfassung. Die sozialen Lebensordnungen bzw. die sozialen Grundrechte, an denen SPD und Gewerkschaften interessiert waren, blieben weiterhin unerwähnt. [2]

Und seitdem?

Das Grundgesetz legt im Art. 140 fest, dass den Religionsgemeinschaften Vereinigungen gleichgestellt sind, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen (der inkorporierte Art. 137 der WRV). Das heißt, Privilegien der Kirchen müssen auch anderen Organisationen zugesprochen werden. Auf dieser Grundlage findet nicht nur Religionsunterricht in etlichen Glaubensrichtungen statt, sondern auch der humanistische Lebenskundeunterricht.

Immer weniger Kinder nehmen am Religionsunterricht teil, denn immer weniger Eltern sind Kirchenmitglieder. Um dem entgegenzuwirken, werben die Kirchen immer offensiver um Schüler. Mit dem geplanten Wahlpflichtfach Weltanschauungen/Religionen haben sie in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD einen Coup gelandet.

Zum Weiterlesen

[1] Michael Germann/Cornelius Wiesner, Schule und Religion in der Entwicklung des Schulwesens in Deutschland.
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0034-1312-2013-4-396.pdf?download_full_pdf=1

 [2] Hartmut Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht, Baden-Baden, 2022. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748932116/religionsunterricht-oder-ethikunterricht?page=1

[3] Rezension  zu: Hartmut Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht?
https://humanismus-aktuell.de/kress-religionsunterricht-oder-ethikunterricht/